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Was bleibt

„Was bleibt aber, stiften die Dichter.“ (Hölderlin)

Welche Bücher sind es, die bleiben? Diese Frage scheint mittlerweile genauso beliebt wie unbeantwortbar zu sein. Immer neue Kanons und Leselisten werden erstellt, und die Begründungen für die Auswahl sind ebenso zahlreich wie die Listen selbst.

Aber wählen wirklich wir die Bücher aus, die bleiben? Sind es nicht vielmehr die Bücher selbst, die uns wählen, indem sie sich irgendwann unbemerkt oder wie ein Blitz in unser Leben drängen und nie wieder daraus zu vertreiben sind? Ist es der Text, in dem eines Tages schwarz auf weiß stand, was ich so oft gefühlt, aber nie dingfest gemacht habe? Ist es das Buch, das zum Begleiter einer langen Reise wurde und dessen Inhalt für immer verbunden bleibt mit dem Aussehen und dem Duft der bereisten Landschaft? Oder vielleicht der Titel, der sich auf immer eingeprägt hat, weil man dem Buchrücken im elterlichen Regal viele Jahre hindurch bei allen Mahlzeiten gegenüber saß?

Das Literaturbüro NRW hat 2002 15 Menschen, die sich dem gedruckten Wort buchstäblich verschrieben haben – Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Nordrhein-Westfalen – gebeten, sich einmal zu ihrem Buch zu äußern.

Die Ergebnisse sind sehr persönlich, manchmal erstaunlich, immer aber literarisch – lesen Sie selbst!

 

Katrin Askan


Katrin Askan, geb. 1966 in Berlin, lebt seit 1998 als freiberufliche Schriftstellerin in Köln. Bislang erschienen von ihr die Romane A-Dur (1996), Eisenengel (1998), Aus dem Schneider (2000) sowie ein Band mit Erzählungen, Wiederholungstäter, im Berlin Verlag.

Weitere Informationen unter www.katrin-askan.de.

K. und die Pangeometrie

Mit achtzehn hielt ich den Europa-Almanach zum ersten Mal in den Händen, den Nachdruck von 1984, leider nicht das 59 Jahre ältere Original. Carl Einstein und Paul Westheim hatten ihn einst herausgegeben: eine Sammlung von Gedichten, Gedanken und Geschichten zur europäischen Malerei, Literatur, Musik, Architektur, Plastik, Bühne, Film und Mode. Bereits beim Blättern blieb ich bei einem Beitrag mit dem Titel: K. und die Pangeometrie (K. = Kunst) von El Lissitzky hängen. Eine der Skizzen, die in den Text eingefügt sind, berührte mich stark. Sie illustriert die "chinesische" Darstellungs-Perspektive, bei der die Spitze der Sehpyramide nicht, wie wir es gewohnt sind, auf den Horizont projiziert, sondern ins Auge des Betrachters verlegt ist. Der abgebildete Gegenstand, in diesem Fall ein Tisch mit Vase, verengt sich demzufolge vorne und erweitert sich nach hinten; die Begrenzungen des Raumes laufen auseinander, statt zusammen.

Damals wurde mir klar, dass die Wirklichkeit auf ganz verschiedene Weise wahrgenommen werden kann, je nachdem, aus welchem Blickwinkel sie betrachtet wird.

Als ich das Buch jetzt wieder hervor hole, fällt eine Postkarte heraus. Das Foto auf der Vorderseite ist von Jean-Claude Larrieu, es heißt Le lit défait. Zu sehen ist ein Doppelbett. Die eine Seite ist zerlegen, die andere unbenutzt; ein Tablett mit Frühstücksgeschirr steht darauf. Als ich die Karte vor vielen Jahren kaufte, dachte ich, dass hier ein Paar nur eine Seite des Bettes für die Nacht gebraucht habe. Als ich das Foto nun neuerlich betrachte, entdecke ich auf dem Tablett nur eine einzige Tasse. Ein Buch liegt daneben, das jemandem über eine schlaflose, einsame Nacht hinweg geholfen haben könnte. Ich schiebe die Karte wieder ins Europa-Almanach zurück, zwischen die Seiten mit der umgekehrten Sehpyramide. Wieder einmal bin ich belehrt darüber, dass nicht nur Anschauung eine Sache der Perspektive ist. Sondern Bedeutung auch.

 

Barbara Bongartz

Barbara Bongartz, promoviert in Filmwissenschaft, Autorin mehrerer Romane und Erzählungsbände, u.a. Die Amerikanische Katze, lebt in Berlin.

Was bleibet, aber stiften die Dichter ...
... zum Beispiel Verwirrung & Trost.

Es war ein Winterabend, glaube ich, vielleicht auch ein trüber Nachmittag im Frühjahr, als mir ein Artikel über eine amerikanische Dichterin in die Hand fiel, die gerade wiederentdeckt worden war in der Welt und zum zweiten Mal, dieses Mal post mortem, zur Lady of Fashion wurde. Sie brachte mir ein altes Projekt in Erinnerung zurück, das ich mit fünf Jahren, als ich gerade schreiben gelernt hatte, in Angriff nahm, aber aus Gründen, die hier nichts zur Sache tun, völlig vergaß: Schriftstellerin zu werden.

Nachdem ich den Artikel zu Ende gelesen hatte, rannte ich in die nächste Buchhandlung (also muß es ein Wochentag gewesen sein), die das Buch nicht vorrätig hatte, das in dem Artikel so dringend empfohlen wurde, und tatsächlich gab es nur eine einzige in Düsseldorf, die es ständig auf Lager hielt (das sollte sich auch in den nächsten Jahren nicht ändern, und es hängt damit zusammen, daß das Ehepaar, das die Literaturhandlung führt, um die lebenserhaltende Kraft der Bücher weiß).

Und da las ich sie, die stumme Frage, die ich mir all die Zeit unwißendlich gestellt hatte; fast fünfzig Jahre zuvor hatte sie Djuna Barnes niedergeschrieben: Was spricht die Nacht? Sie tropfte, sie kreischte, sie summte, sie klang, sie weinte und bröckelte aus dem Mund des Gewaltigen-Doktor-Matthew-Mächtig-cum grano salis Dante-O'Connor, des Weltentrösters, selbst eine Camouflage der Welt, tröstend aus dem eigenen Leiden heraus. Aus seinem Mund erfuhr ich auch die Antwort. Hast du... jemals an die sonderbare Polarität von Zeit und Zeit gedacht? Und an den Schlaf...den erschlagenen, weißen Stier?... Schon die Einrichtung des Zwielichts ist eine mythische Nachbildung der Angst... jeder Tag ist vorbedacht... die Nacht aber ist nicht eingeplant... - Nacht: "Hüte dich vor der dunklen Tür."

Es sollte noch Jahre dauern, bis ich Örtliche Leidenschaften - Compilationes schrieb, eine Sammlung von Nachtstücken mit Vortexten und Anmerkungen, ich schrieb sie in seinem Geist, und auch Die amerikanische Katze macht eine tiefe Verbeugung vor dem mythischen Wissen des Doktors.

Nachtgewächs, der große Roman von Djuna Barnes, schon in der ersten Ausgabe verstümmelt, ist leider nie, trotz Lady und Fashion, ein Bestseller geworden. Es hieß, es sei ein unverständliches Buch, wurde zwar zähneknirschend mit Joyce Ulysses verglichen, doch als verwirrend und obszön eingestuft. Dabei ist es voller Trost, und es ist eines der geheimnisvollsten und anregendsten Bücher, das ich je las, und wurde so zu meiner Bibel, ohne die ich nicht auf Reisen gehe und die mich immer, sollte ich einmal wieder mein Projekt vergessen, daran erinnert, warum ich es mit fünf Jahren ins Auge faßte... "Weißt du, was mich zum größten Lügner diesseits des Mondes gemacht hat? Mich, der ich Leuten wie dir meine Geschichte erzähle, um sie von der Todesangst zu befreien, die ihnen in den Eingeweiden sitzt? Um sie zu halten, wenn sie sich am Boden krümmen, die Füße hochziehen und schreien?... Sie schreien: ‚So sag doch etwas, Doktor...!' Und ich rede darauf los wie ein Irrer ... - das und sonst nichts hat mich zu dem Lügner gemacht, der ich bin."

Mich auch.

 

Liane Dirks

Liane Dirks, 1955 in Hamburg geboren, ist seit 1985 freie Schriftstellerin. Sie erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, darunter das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln und den Märkischen Literaturpreis. Sie lebt mit ihren beiden Töchtern in Köln. Bisherige Veröffentlichungen: "Die liebe Angst", Roman 1986."Und die Liebe? frag ich sie", Roman 1998. "Vier Arten meinen Vater zu beerdigen", Roman 2002.

Über Ossip Mandelstams Vierte Prosa

Was für ein Ansatz! Jetzt schlage ich das Buch wieder auf und denke, wie damals, als ich es zum ersten Mal las: das ist es, der ganz große Sprung! Über alle Hürden unserer Sprache, unserer Gewohnheit, unseres Denkens, hinaus, höher und weiter, weg.

Ossip Mandelstam ist am Ende immer weg, obwohl er mit wenigen Sätzen manifestiert, dass er ganz und gar da ist. Wie macht er das? Und womit?

"Vierte Prosa", so nennt er Notizen aus den Jahren 1929/30, glaube bloß keiner, dass es "erste" oder "zweite" Prosa gebe, nur "vierte" gibt es: "Es ist soweit gekommen, dass ich im literarischen Handwerk nur noch das wilde Fleisch schätze, nur den wahnsinnigen Auswuchs ..." so eröffnet er eine Seite und dann legt er los, hetzt auf angepasste Schriftsteller, die man wegsperren sollte mit einem "Glas Polizeistubentee" und der Urinprobe eines Zensors in der Hand, sie sollten weder heiraten noch Kinder kriegen dürfen. Und wenn er fertig ist, mit seiner komprimierten Empörung, seiner ungeschützten Wut, unten drunter der eine Satz: "So weit ein Seitchen Literatur."

Mandelstam war Dichter und die 4 ist eine heilige Zahl. In der Alchemie steht sie für Verwandlung. Das 4. Element, aus Dreck wird Gold. Welches ist es? Sicher ist, welches die Folgen waren für seine ungebührlichen Texte: Verfolgung, Verhaftung, Tod. In Sibirien starb er. Der Poet mit den hitzigen Worten, getötet im Eis.

Ich las die "Vierte Prosa" bevor ich anfing zu schreiben. Das war mir eine Lehre, die mir heute noch und mehr denn je Respekt einflößt. Ich wusste nämlich ziemlich gleich, was die Nummer Vier ist: er. Und wenn ich Schriftstellerin werde, dann bin das ich. Schreiben mit Ganzkörpereinsatz, jawohl, volles Risiko, das ganze Leben gehört da rein, dann erst wandeln sich die Worte.

Vielleicht hat er deshalb auch den schlimmsten aller Zustände ertragen und war doch und gerade deshalb einer der größten Dichter: "Ich habe keine Manuskripte, keine Notizbücher, keine Archive. Ich habe keine Handschrift, weil ich niemals schreibe. Ganz allein in Russland arbeite ich nach meiner Stimme, ..."

So weit kann das also gehen. Das ist Schreiben.

 

Horst Eckert

Geb. 1959 in Weiden (Oberpfalz). Studium der Politischen Wissenschaft in Erlangen und Berlin. Seit 1987 lebt und arbeitet er in Düsseldorf als Schriftsteller und Fernsehjournalist. Veröffentlichungen u.a.: Annas Erbe (1995), Bittere Delikatessen (1996), Finstere Seelen (1999), Die Zwillingsfalle (2002) Ausgezählt (2002). Eckert wurde u.a. mit dem renommierten Glauser-Preis ausgezeichnet

Sie lebt

Ich gestehe, dass ich kaum jemals ein Buch zweimal gelesen habe. Ausnahmen sind die "Der Mann mit der Ledertasche" von Charles Bukowski und die "Trilogie des laufenden Schwachsinns" von Eckhard Henscheid. Und "Die Schwarze Dahlie" des Amerikaners James Ellroy. Letzteres ist die Geschichte von Bucky, Lee und ihrer gemeinsamen Freundin Kay sowie einem Mordfall, der das Leben der Drei erschüttert. Angesiedelt in Los Angeles am Ende der vierziger Jahre, also weit genug entfernt, um ein Großstadtpanorama und Sittengemälde zu entwerfen, in dem fast alle Schlechtigkeit der Welt auf die Spitze getrieben wird und wir dennoch glauben können, dass es damals so gewesen sein könnte. Ellroy knüpft dabei an einen realen Mordfall an und hat einen zweiten stets im Hinterkopf, den an seiner Mutter im Jahr 1958. Ihr hat er das Buch gewidmet, als "in Blut geschriebenes Lebewohl".

"Die Schwarze Dahlie" wurde mir 1988 von einem Freund empfohlen, in dem Jahr also, in dem der Roman auf Deutsch erschien. Was mich von der ersten Zeile an packte, war der Ton: prall, konzentriert und begleitet von einer Gefühlskraft, die stets am Rand zur Sentimentalität balanciert und trotzdem nie abrutscht. Keine Kälte oder Ironie, die uns sichere Distanz wahren lässt, sondern eine Unmittelbarkeit, die uns verschmelzen lässt mit Bucky, dem Ich-Erzähler. Wie im Rausch las ich mich durch das perfekt konstruierte Werk und bin noch heute überzeugt, dass die "Dahlie" einer der besten Kriminalromane überhaupt ist und damit auch ein herausragendes Stück Weltliteratur.

Im gleichen Jahr erschien auf Deutsch "Roter Drache" von Thomas Harris, in meinen Augen der zweite epochemachende Kriminalroman der Achtziger. Seitdem bin ich keinem Roman begegnet, der das Genre weiter vorangetrieben hätte als diese Beiden. Doch verglichen mit "Roter Drache" ist die "Dahlie" das Werk, das literarisch mehr riskiert, und, weil Plot, Charaktere und Sprache stimmen, auch gewinnt. Leider hat sich Ellroy später auf einen für meinen Geschmack manirierten Telegrammstil verlegt und auf ein anderes Genre, den Politthriller. Er schreibt noch immer sehr gut, aber die alte Größe hat er nicht wieder erreicht.
Als ich 1994 begann, Kriminalromane zu schreiben, waren nicht Vorbilder der Anstoß, sondern an all die mittelmäßigen Autoren, über deren Fehler und Schwächen ich mich beim Lesen oft geärgert hatte. Ich wollte es besser machen. Dass es ging, hatten Bücher wie die "Dahlie" bewiesen.

Vor ein paar Jahren nutzte ich eine längere Autofahrt, um der "Dahlie" wieder zu begegnen. Ich hatte mir das Hörspiel gekauft, das der WDR nach Ellroys Buch produziert hatte. Und da war es wieder, das Gefühl, mit Haut und Haar in die Geschichte gezogen zu werden. So sehr, dass ich auf der A3 am Elzer Berg sämtliche Warnschilder übersah, geblitzt wurde und den Führerschein verlor.

Nach einer Lesung in Köln signierte mir der Autor das Buch mit den Worten: "To Horst: She lives!" Und es stimmt, sie ist lebendig - das ermordete Mädchen, das man "Die Schwarze Dahlie" nannte, lebt aufgrund der erzählerischen Kraft James Ellroys in unseren Herzen weiter. In diesem Sinn hat mich dieses Buch bis heute begleitet.

 

Willi Fährmann

Geboren am 18. Dezember 1929 in Duisburg. Von 1946 an absolvierte er eine Maurerlehre. Neben seiner Arbeit holte er an der Abendschule die Qualifikation zum Studium nach und studierte an den Pädagogischen Hochschulen in Oberhausen und Münster. Als aktives Mitglied in der katholischen Jugendarbeit machte er viele Reisen durch Europa. Sein besonderes Interesse galt England, wo er den Spuren des Thomas Morus folgte, um dessen Werk und Zeit zu studieren. Von 1953 an war er zehn Jahre als Volksschullehrer in Duisburg tätig. 1963 wurde er Leiter einer großen Schule in Xanten, 1972 dann Schulrat am Niederrhein. Neben vielen Aufsätzen in Zeitschriften entstanden zahlreiche Kinderbücher. 1962 erschien „Das Jahr der Wölfe", sein erstes Jugendbuch, im Arena-Verlag. Heute gilt er als einer der auch international renommiertesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautoren. Willi Fährmann ist Träger des „Großen Preises der Deutschen Akademie für Kinder und Jugendliteratur", des Deutschen Jugendliteraturpreises sowie zahlreicher internationaler Auszeichnungen. Seit 1983 ist er Mitglied des P.E.N.-Zentrums. Er lebt in Xanten.

Durch Liter zur Literatur

Die paulinischen Erlebnisse, z.B. blitzartig zum Leser zu werden, waren in dem düsteren Vorort von Duisburg eher selten. Immerhin, ich war das Königskind der Straße; denn ich besaß mit sechs Büchern mehr, als die meisten Kinder dort. Ob ich 'Genoveva' inniger liebte als 'Robinson Crusoe' weiß ich nicht mehr. Doch Robinson setzte viel Kreativität frei. Mein abgegriffener Teddy, der mir aus Ermangelung von Geschwistern ein unentbehrlicher Gefährte war, hieß Freitag, und das Wachstuchsofa in der Küche konnte alles ein, Robinsons Festung, sein Floß, seine Höhle. Immer wieder griff ich auch zu dem Buch 'Gerd und die Bramkampsjungen'. Den Namen des gewiss bedeutenden Autors habe ich vergessen. Die Reihung situationskomischer Episoden brachte mich zum Lachen. Vielleicht verdanke ich diesem Buch meine besondere Neigung zu Texten, die das Lächeln, ja, das Lachen herausfordern. Siegfried Lenz' 'So zärtlich war Suleiken' gewann mich so für den Autor, dass ich bis heute alles aus seiner Feder lese, wenn mir auch das Lachen verging, als ich in seiner 'Deutschstunde' an die tiefe Zerrissenheit einer Generation erinnert wurde, die ich als Jugendlicher in der Nazuzeit erlitt. Doch zurück zu meinen Kindertagen. Meine Liebe zum Lesen verdanke ich dem Bier. Durch Liter bin ich zur Literatur gekommen. Mein Vater arbeitete in der König-Brauerei. Täglich brachte er, Teil des Lohnes, sechs Halbliterflaschen Deputatbier nach Hause. Unser Hausfriseur Fritz Ott war zugleich der Leiter der Pfarrbücherei in St. Laurentius. Er tauschte aus den Büchereibeständen Literatur gegen Liter. Jeden Tag las mein Vater mir daraus vor, viele Jahre lang. Ich lauschte hingerissen. Und dann meine Oma Mathilde! Sie ließ sich nie zweimal bitten, wenn ich eine Geschichte von ihr einforderte. Beiden verdanke ich die Grunderfahrung: Geschichten sind wunderbar. Wer das nicht weiß, wird wohl kaum zum Leser.

 

Dieter M. Gräf

Dieter M. Gräf, geb. 1960 in Ludwigshafen / Rhein, Stipendiat in Amsterdam, Berlin und Los Angeles, lebt in Köln. Leonce-und-Lena-Preis der Stadt Darmstadt 1997 (Förderpreis 1993); Writer-in-Residence der Deutschen Festspiele in Indien 2001. Intermediale Projekte, zuletzt Tussirecherche (2000), Rauminstallation und Katalog (mit Margret Eicher). Im Suhrkamp Verlag erschienen die Gedichtbände Rauschstudie: Vater + Sohn (1994; es 1888), Treibender Kopf (1997) und Westrand (2002).

Über die Gedichte von Brecht

Wenn es ein Buch gibt, das mich zum Autor gemacht hat, sind es die Gesammelten Gedichte von Brecht, vier orangefarbene Taschenbücher der edition suhrkamp. Ich bin zwar "mitten im Nibelungenlied" aufgewachsen, aber in der pfälzischen Chemiestadt Ludwigshafen am Rhein, als Sohn eines Maschineneinstellers und einer Krankenkassenangestellten, und Bücher spielten keine Rolle in meiner Familie bevor ich welche las, schrieb, und auch ausserhalb meiner Herkunft spielt Literatur da keine Rolle bis zum heutigen Tag. Ich aber bedrängte meinen Vater, der mir schon einige Bücher geschenkt hatte, denn ich las ekstatisch und unersättlich, sein erstes Buchgeschenk war Buddenbrocks in der Ausgabe der gewerkschaftsnahen Büchergilde Gutenberg (jedes Detail kommt mir wie ein Programm vor, das Herr Niemand für mich geschrieben hat), ich bat ihn also, mir diese Kassette zu kaufen, dringlich, denn er war nicht erpicht darauf - weil Brecht Kommunist war, und er rechtschaffener SPD-Wähler. Ich war etwa 15 Jahre alt und las diese Verse in meinem 3K-Möbel-Jugendzimmer im Vorort Maudach, und sehe keinen Unterschied zwischen meiner damaligen Lektüre und der heutigen: von nicht wenigen Gedichten war ich hypnotisiert, begeistert, von Stellen befremdet, auch mal enttäuscht und angeödet. Ich war sofort familiär, intim mit Dichtung, und brauchte keinen, der mir vorgab, was bedeutend ist und was daneben. Ich hatte auch sofort die natürliche Achtung vor diesem großen Mann: war also hin und weg von seinen Jahrhundertgedichten und schüttelte den jungen Kopf, schrieb er Schrott. Der tote Brecht war für mich da, er war also nur nicht mehr in seinem Körper, aber von seiner Energie her unsterblich und für alle abrufbar durch Lesen. Ich hingegen hatte zu sterben, und alles schien sinnlos. Es sei denn, ich würde auch Dichter. Der Beruf war gefunden, denn das Lesen war eh schon mein Glückselexier, dem Tod war der Schrecken genommen, und der Verlag stand auch schon. Zwanzig Jahre nach mir unterschrieb Unseld den Vertrag, und 1994 konnte mein Band in der edition suhrkamp erscheinen, der gelb war. Ich schreibe ja auch ganz anders als Brecht, aber meine Liebe ist geblieben, für die Hauspostille, den grandiosesten Gedichtband unserer Sprache. Vor ein paar Tagen wählte ich daraus ein Gedicht für ein Projekt: das Jahr des Copyrights ist identisch mit meinem Geburtsjahr.

 

Christof Hamann

Geb. 1966 in Ludwigshafen. Studium Germanistik, Soziologie, Philosophie und Geschichte in Freiburg und Berlin. Promotion über New York in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur an der Universität Essen. Haman wurde für seinen Roman Seegfrörne (Steidl-Verlag) mit einem Stipendium der Kunststiftung Baden Württemberg ausgezeichnet und bekam den Förderpreis des Landes NRW 2002.

Mein Leben mit Joseph Roth

1
Hiob ist ein baufälliger Mensch, heißt es im Roman von Joseph Roth. Die Kunst meines Erwachsenwerdens bestand darin, diesen Satz vor mir zu verbergen. Indem ich mir vorplapperte, daß der Ärmel, an dem ich meine Brille abwischte, zu mehr taugte. Zu Halt, zu Trost, lebenslänglich. Indem ich laut und lauter wünschte, daß der Sessel, in den ich meinen Hintern quetschte, das Sprungbrett zu Höherem war. Von ganz oben würde der Blick zurückgehen, geradlinig, ohne Schnörkel. Die Sprüche halfen. Sie legten sich so über den Satz, daß er zurücktrat und mir höchstens gelegentlich als Lufthauch um die Fersen fuhr. Jetzt ist er grundlos aufsässig geworden, dieser Hiobssatz, und hat mir die Sprüche, in denen ich ein Nest für mein Leben gebaut hatte, verwüstet. Was blieb mir übrig, als ihn anzunehmen und zu einem Anderen zu werden? Mit Erwartungen, nach wie vor. Erwartungen an Zufälle, die in die Hände gespült werden und dann zwischen ihnen zerrinnen. Erwartungen an Blicke, die so leicht sind, daß ihr Ziel, sobald sich die Augen abwenden, im Vergessen verschwindet. Erwartungen an Landschaften, die sich in tausend Welten zerstreuen. Erwartungen an mich, als kleines, aber unverwüstliches Tier.

2
Der Zeltplatz liegt so sehr am Rand der Stadt, daß er aus ihr herausfallen würde, wären da nicht die Autobahn, der Supermarkt und der Flugplatz. Die rotgrünen Zelte stechen aus dem Gebüsch hervor, und sofort fühle ich mich wie so oft schon an den Wanderzirkus von Joseph Roth erinnert, wo trockene Wäsche leichtsinnig auf einer Schnur weht. Vergebens! Zwischen all den lebensfroh hier festsitzenden Menschen sind die Zitate Vögel, die man nicht halten kann. Und wenn ich auch entmutigt vor den bunten Trainingsanzügen und Transistorradios stolpere, so ahne ich doch, meine Urteile sind allein der mangelnden Phantasie zuzuschreiben, die dem Offensichtlichen die Lust verweigern. Beim einen fällt mir nur tagealter Staub ein und kurz darauf ein Wischtuch. Beim zweiten Autowaschanlage. Beim dritten Chefsessel. Daß ich aus ihnen keine Tiere machen kann, die von ganz woanders kommen, liegt an der Verwandtschaft.

 

Karin Hempel-Soos

Geboren 1939 in Dresden, lebt und arbeitet in Bonn/NRW. Wächst in Meiningen/Thüringen auf. Studium in Dresden, Köln, Bonn. Seit 1980 als freie Journalistin, Schriftstellerin und Kabarettistin tätig. Seit 1994 Leiterin des Hauses der Sprache und Literatur in Bonn. Veröffentlichungen (Auswahl): Meine unsortierten Jahre, Gedichte (1980, Junger Verlag). Anabiose, Gedichte (2001, Wienand).

 

mein erstes buch. bestimmt ein bilderbuch - ohne jedes wort. ein buch, das mich faszinierte - wahrscheinlich ein kochbuch meiner großmutter, von mir mit zusatzbildchen verschönert, wie ich dachte. ein buch - das mich prägte - ein märchenbuch. später sah ich eine geschichte daraus in der obligatorisch-jährlichen weihnachtsinszenierung im Meininger Theater. mein märchenbuch war in einer schrift gedruckt, die es heute nicht mehr gibt, ein bisschen hoheitsvoll, ein bisschen gravitätisch, ein bisschen angeknackst. überschrift und erster buchstabe besonders herausgeputzt. irgendwer in dem märchen sollte um jeden preis zum lachen gebracht werden, hatte aber einen heiligen schwur geleistet, auf gar keinen fall, überhaupt nicht, nie und niemals zu lachen. das war eine wahrhaft schwerschwierige aufgabe ich hätte nämlich immer was zu giggeln, zu kichern, zu lachen gehabt. aber der schwur musste gehalten werden, denn nur, wenn der irgendwer - der ein mann war, dessen namen ich vergessen hatte - den schwur zehn jahre oder so halten konnte, wurde eine ehemals schöne prinzessin wieder eine schöne prinzessin, die vorübergehend bis ewig in einen wischeimer verwandelt worden war. dieser nichtlafendürfende irgendwer lief in einer endlosschleife um einen ziemlich kräftigen baum und sagte mit trauriger bassbärenstimme "ernst bin ich. ernst bleib ich. bis an mein grab. weil ich das lachen verlernet hab. ernst bin ich. ernst bleib ich. bis an mein grab. ernst bin, ernst bleib Ich." letzteres hat sich bei mir bis heute nicht geändert. nur, wenn ich einem wischeimer begegne, weiche ich ihm rechtzeitig aus. bloß nicht feixen oder gar lachen.

 

Thomas Hoeps 

Geb. 1966 in Krefeld. Germanistikstudium in Düsseldorf und Dresden. Promotion über Terrorismus in deutscher Prosa. Hoeps lebt und arbeitet als Geschäftsführer des Kulturraums Niederrhein, Literaturveranstalter und freier Schriftsteller in Krefeld. Veröffentlichungen u.a.: gib dem onkel die hand (die schöne)! (1997), Pfeifer bricht aus (1998), Bacon-Notate (2001). 1995 erhielt Hoeps den Förderpreis für Literatur der Stadt Düsseldorf und 1999 den Nettetaler Literaturpreis.

Über Kleists Novellen (Das Erdbeben in Chili)

Es geht alles seinen geregelten Gang. Die Erde bebt, die Paläste der Herrschenden stürzen ein, das Chaos regiert, und plötzlich beginnen die Menschen einander zu helfen - gleich welchen Standes, gleich welcher Überzeugung - Mensch sei Mensch. Zwei Tage lang. Dann haben die Repräsentanten der alten Ordnung den Schutt aus den Befehlskanälen geräumt und füllen die Ohren der Leute mit vertrauten Urteilen. Die Menschen lieben diesen Klang der Ordnung. Sogleich finden sich hinreichend Gedemütigte, ihren aufgestauten Haß auszutoben. Die Kultivierten in den Logen drumherum entladen den ihren zitternd vor Lust im gebannten Blick auf das Spektakel der Tortur.

Es ist etwas zutiefst Beunruhigendes an Kleists Novellen, die ich, Anfang 20, zum ersten Mal las. Zunächst ist da ihr faszinierender, atemberaubender Stil: welche Präzision der Schilderung und zugleich: welch in sich verschachteltes Gebirge von Grammatik. Allein über die Form führt Kleist die ungeheure Anstrengung vor, derer es bedarf, der Welt einen Sinn zu konstruieren.

Was mich bei jeder Lektüre am meisten und stets auf's Neue verstörte - das war die Selbstverständlichkeit, mit der hier Verrat und Verbrechen geschehen. Anflüge moralischer Empörung des Erzählers verflüchtigen sich sogleich als Wendungen einer Ironie, die nichts Versöhnendes an sich hat, sondern im Bodenlosen gründet.

Eichendorff hat in Sachen Kleist geschrieben: "Hüte Jeder das wilde Tier in seiner Brust, daß es nicht plötzlich ausbricht und ihn selbst zerreißt." Auch ihm war klar, daß Inhumanität nicht die Ausnahme, sondern der Regelfall menschlicher Existenz ist. Seine Überzeugung, man könne das durch festen "Glaubensmut" verhindern, ist einer von vielen Irrtümern, denen die Figuren in Kleists Novellen unterliegen. Kleist zeigt, wie das "wilde Tier" sowohl andere als auch sich selbst zerreißt, und wie danach sofort die große Verschleierungsmaschinerie angeworfen wird. Er zeigt es kalt und ohne jede falsche Hoffnung auf Besserung. Heiner Müller hat einmal bei einer Talkshow auf die Frage, wie sich Vaterschaft mit negativem Weltbild vertrage - süffisant geantwortet: Objektiv gebe es natürlich keine Hoffnung, im Subjektiven leiste er sich diesen Luxus.

Es ist ein Luxus, der einen von der Fahrt zum Wannsee abhält.

 

Norbert Hummelt

Geb. 1962, lebt in Lohmar. Hummelt veröffentlichte Essays zur Romantik und Moderne. 1993 erschien knackige codes, 1997 singtrieb und 2001 der Gedichtband Zeichen im Schnee. Bei seinem letzten Projekt Die Weiterreise verkuppelt er eigene Gedichte mit der Musik Schuberts. Hummelt wurde u.a. ausgezeichnet mit dem Rolf.Dieter-Brinkmann-Preis (1996) und erhielt 2002 das New-York-Stipendium des Deutschen Literaturfonds.

Felix Timmermans: Das Triptychon von den Heiligen drei Königen

Eichendorff, Benn, Eliot, Jandl haben Bücher geschrieben, die mich tief beeindruckten. Wenn ich aber ein einzelnes Buch nennen muß, das mich geprägt hat, so ist es eins, das viel früher zu mir kam und das heute kaum noch jemand kennt. Es ist von dem flämischen Dichter Felix Timmermans und heißt „Das Triptychon von den Heiligen drei Königen". Sucht man in den Antiquariaten bei der Insel-Bücherei, findet sich manches von diesem Autor, der im katholischen Milieu viel gelesen wurde, gerade weil er auf dem kirchlichen Index stand; wegen der Freizügigkeit seines Romans „Pallieter". Die vermeintlich harmlose Geschichte vom Bettler Schrobberbeeck, vom Hirten Suskewiet und vom Aalfischer Pitjevogel, die als Dreikönige verkleidet über die Dörfer Flanderns ziehen, um Geld für Schnaps zu sammeln und in der Dämmerung des Weihnachtsabends auf die heilige Familie treffen, die frierend in einem zerlumpten Kirmeswagen hockt, glaubte man mir dagegen getrost vorlesen zu können und ahnte nicht, daß ich mich daran mit Poesie infizieren könnte, einer Krankheit, die nur schwer ausheilt. Mein Vater las es mir vor, meist an drei Abenden, denn nach Art eines Klappaltars ist das „Triptychon" in Mittelstück, linken und rechten Flügel unterteilt. Dann kam der Tag, an dem ich selbst zum Vorleser wurde, bei einer Weihnachtsfeier der KAB. Mehr schlecht als recht hatte ich bisher als Klavierbegleiter zur Adventsstimmung der katholischen Arbeitnehmer beigetragen. Nur selten gelang mir eine fehlerfreie Strophe. Nachdem ich jedoch erstmals das Mittelstück des „Triptychon" vorgelesen hatte, war ich von der Last des Klavierspielens befreit. Seitdem sind Jahrzehnte vergangen, in denen der Eindruck dieses Buches auf mich nicht schwächer geworden ist. In seiner klaren und einfachen Sprache, die das Wunderbare auf festen Boden stellt und immer rührend und komisch zugleich ist, liegt eine hinreißende sanfte Gewalt.

 

Roland Koch

Roland Koch, geboren 1959, lebt als freier Schriftsteller in Köln. Er veröffentlichte u.a. zahlreiche Kurzgeschichten, den Erzählband "Helle Nächte" (1995) sowie die Romane "Die tägliche Eroberung" (1991), "Das braune Mädchen" (1998) und "Paare" (2000). 2002 gab er die Anthologie "Der wilde Osten. Neueste deutsche Literatur" heraus. 2003 erscheint der Roman "Ins leise Zimmer".

Frank Schulz, Morbus fonticuli oder Die Sehnsucht des Laien

Ich las im letzten Jahr voller Bewunderung den zweiten Roman von Frank Schulz, "Morbus fonticuli", ein groß angelegtes, höchst komisches, unsere Zeit und unsere Sprache abhorchendes Buch. Schon der erste Teil der Trilogie, "Kolks blonde Bräute", hatte mich begeistert. Die bekannten Figuren tauchen in der Fortsetzung wieder auf. Frank Schulz hat zehn Jahre an dem neuen Roman gearbeitet. Und er schreibt jetzt an dem dritten Teil dieser "Hagener Trilogie". "Morbus fonticuli" ist eine drastische, obsessive Liebesgeschichte und eine wunderbare Erzählung aus dem Journalistenalltag, verschränkt, souverän gebaut, anspielungsreich und unterhaltsam. Ein Buch über die neunziger Jahre, das die richtige Mischung von Satire und Melancholie findet. Ein Buch, das bleiben wir

 

Michael Lentz

1964 in Düren geboren (Deutschland, Nordrhein-Westfalen). Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Aachen und München. 1998 Promotion mit einer Arbeit über Lautpoesie/-musik nach 1945. Seither Autor, Musiker (Sprecher, Saxophonist) und Interpret von experimentellen Texten und Lautgedichten. Schüler des Komponisten Josef Anton Riedl. Seit 1989 in dessen Ensemble. 2002 Ernennung zum Ordentlichen Mitglied der Freien Akademie der Künste zu Leipzig. Lebt seit 1987 in München.

Sprechakte für verschiedene Besetzung, uraufgeführt u. a. bei Klang-Aktionen, Neue Musik München, Tage für Neue Musik Rottenburg am Neckar, Kryptonale (Berlin), Innehalten - Dieter Schnebel 70: zuletzt: arance dal marocco (Text-Sound Composition) für 4 akustische und 5 elektrische Gitarren, Sampler, Talkbox, Sprechen live und CD, CD-Einspielung [2001] (zusammen mit Zoro Babel) Kurator der seit Januar 1996 bestehenden Veranstaltungsreihe "SOUNDBOX. Akustische Kunst" in Salzburg und München: akustische Literatur, Lautpoesie, Lautmusik, improvisierte Musik, Experimentalfilme. Zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien, Zeitschriften, Katalogen, im Internet, auf CD sowie im Rundfunk und Fernsehen (BR, ZDF, ORF, 3sat).

Ich kann Virginia Woolf nicht mehr lesen

Ich kann Virginia Woolf nicht mehr lesen. Ich habe Angst vor Virginia Woolf. Es gibt kein Buch von ihr, das ich noch lesen kann. Nach der Lektüre ihrer Biographie, ein Trugschluss, eine sogenannte Biographie lesen zu können, wir können eine Biographie überhaupt nicht lesen, wir können höchstens unsere eigene mitgeschleppte Biographie leben, und das scheint schon zuviel verlangt, nach der Lektüre ihrer Biographie ist mir das Virginia-Woolf-Lesen völlig unmöglich geworden, mir ist Virginia Woolf abhanden gekommen, und das, was mir Angst macht, ist der von ihr erahnte, vorerahnte, vorerfahrene Zusammenbruch nach Abschluss einer längeren Arbeit, der dann auch in der Tat eingelöst wurde, der Zusammenbruch. Die intensiv unternommene Lektüre Virginia Woolfs, Die Fahrt zum Leuchtturm (1927), Orlando. Geschichte eines Lebens (1928), Die Wellen (1931), Die Jahre (1936), musste ich nach der Lektüre ihrer Biographie aussetzen. Monologisierendes, Umkreisendes, insistierendes Zeitempfinden, das mir in der Ferne nah ist, das in der Erinnerung geblieben ist. Virginia Woolf heißt, dass man nicht ganz unbeschädigt bleiben muss. Es ist aber noch nicht ausgemacht, ob die Psyche an der Poesie oder umgekehrt, die Poesie an der Psyche so Teil hat, dass sie in die andere ganz eindringt, sie von Innen her besetzt. Vorerlebtes Scheitern, und die Literatur als Abarbeiten des Scheiterns, als Aufschub. Die Begegnung mit einem anderen ist schon Gewaltanwendung, Lektüre ist schon Gewaltanwendung, Robert Walser hat mir nie Angst gemacht, Franz Kafka macht mir manchmal Angst, Der Räuber von Robert Walser ist mein Lieblingsbuch, Gehen von Thomas Bernhard ist mein Lieblingsbuch, Der Räuber ist mein Lieblingsbuch, weil ich mit dem Räuber nach vielfacher Lektüre noch lange nicht fertig bin, Gehen ist mein Lieblingsbuch, weil Gehen die Tätigkeit des Lesens ausgelöst hat, Watt von Samuel Beckett ist mein Lieblingsbuch, weil es das ganz Andere des Alltags ist, von durchtriebener Klarheit, verquerer Durchtriebenheit. Ich kann Virginia Woolf nicht mehr lesen.

 

Karl Riha

Geb. 1935 in Krummau/Moldau, lebt nach Frankfurt/Main und Berlin seit 1974 in Siegen/NRW. Literaturwissenschaftler, Kritiker, Autor (Lyrik, Prosa etc.). Zahlreiche Buchpublikationen, Editionen, Anthologien; Zeitschriftenherausgeber. Mitglied des PEN. Mitglied, zeitweise Direktor des Literarischen Colloquiums Berlin. Literaturpreis der Stadt Kassel für grotesken Humor 1996/97. Pseudonyme: Hans Wald, Charlie Hair, Agno Stowitsch.

hier, ja: hier bin ich

auf einem schimmel
einer glühenden osramlampe
komm ich geritten

hier, ja: hier bin ich

meinen tisch auf dem buckel
einen federhalter im griff
von weißen mäusen umschwärmt
einen schwarzen raben
in der hosentasche

mein mund ist voll vögel
ein roter kater
sitzt auf meinem kopf

 

Bernd Schroeder

Geb. 1944, seit 1987 in Köln. Autor zahlreicher TV- und Hörspiele, Grimmepreis, Bundesfilmpreis. Seit 1993 drei Romane: Versunkenes Land (1993), Unter Brüdern (1995), Die Madonnina (2001) Zuletzt: (mit Elke Heidenreich): Rudernde Hunde (2002).

Über Oskar Maria Graf: Das Leben meiner Mutter

Am 27. September 1934 spricht der Schriftsteller Oskar Maria Graf in Georgien in einer Rede von seiner Mutter: "Meine Mutter ist eine echte Bäuerin. Sie arbeitet für das Leben und lebt für die Arbeit, sie ist gar nichts weiter als eine Mutter vieler Kinder. Sie kennt nichts von der Welt und weiss nichts von der Politik...."

Am gleichen Tag stirbt Therese Graf in Berg am Starnberger See siebenundsiebzigjährig. Mit seinem schönsten Roman, "Das Leben meiner Mutter", setzte ihr der Sohn ein Denkmal.

Graf, der den Roman im amerikanischen Exil verfasste, beschreibt das einfache Leben einer einfachen Frau in einem oberbayerischen Dorf. Ein Leben zwischen Geburt und Tod, das von Arbeit, Pflichterfüllung und tiefer Religiosität erfüllt ist. Liebevoll zeichnet Graf dieses Porträt seiner Mutter, und er sagt selbst später einmal: "Mag sein, daß damit das Leben aller Mütter in allen Ländern erzählt worden ist."

Der Roman ist auch eine Familien- und Dorfchronik. Und er ist zudem ein Selbsporträt des Autors, sozusagen der erste Teil einer Autobiographie, die in "Wir sind Gefangene" fortgeschrieben ist.

Ich liebe und empfehle "Das Leben meiner Mutter", weil es kraftvoll, leidenschaftlich, zärtlich und liebevoll und nie heimattümelnd ist. Graf ist mit Therese Graf eine Frauenfigur gelungen, wie Garcia Márquez mit Ursula in "Hundert Jahre Einsamkeit".

Selten hat jemand so einfühlsam ein Milieu beschrieben, aus dessen Enge er selbst ausbrechen musste, um zu überleben. Man spürt in diesem Roman, dass die unbestechliche Geradlinigkeit dieser Mutter dem Sohn die Kraft gegeben hat, sich später gegen die Nazihorden zu wehren.

Als die Nazis die Bücher der Schriftsteller verbrannten, ihn aber vergaßen, forderte Graf in einem Flugblatt: "Verbrennt mich auch!"

 

Hermann Schulz 


Hermann Schulz, geboren 1938 in Ostafrika, leitete von 1967 bis 2001 den Peter Hammer Verlag in Wuppertal. Nach Sachbüchern erschienen seine Romane Auf dem Strom (1998), Iskender (1999), Sonnennebel (2000), Flucht durch den Winter (2002). 2003 wird Im Haus des Vaters erscheinen; alle im Carlsen-Verlag Hamburg. Kinderbücher: Sein erster Fisch (2000) und Wenn dich ein Löwe nach der Uhrzeit fragt (2002, beide Peter Hammer Verlag); Übersetzungen in Frankreich, Holland, Japan, Norwegen, Korea. Kurzgeschichten in mehreren Anthologien.

 

Meine erste berufs- und lebensentscheidende Lektüre vermitteln mir weder Elternhaus noch Schule. Als Jugendlicher habe ich jegliches Lesen (von Tom-Prox-Heftchen abgesehen) abgelehnt. Meine älteren Geschwister lasen viel und diskutierten klug darüber. Mir war als dem Jüngsten klar, dass ich sowieso keine Chance hatte, mitzuhalten. Die totale Verweigerung ging bis zum 14. Lebensjahr. Nur eine sensationelle Lektüre konnte mich aus der Abwehrhaltung heraus holen.

Auf einer illegalen Müllkippe in Repelen (Moers) fand ich 1952, einsam herum streunend, unter Abfällen ein Groschenheft. Die ersten Seiten fehlten; das Schriftbild versprach einen Cowboy- oder Liebesroman. In zwei, drei Stunden las ich diese Geschichte - die leider ohne Anfang und Ende war -, und weiß heute, dass sie mir eine für immer prägende Vorstellung von dem vermittelt hat, dass hinter den Fassaden von Ereignissen und Lebensgeschichten Geheimnisse zu finden sind; die Geheimnisse der Literatur und weit darüber hinaus!

Die Geschichte in Grundzügen: Eine schwangere russische Fürstin geht mit den Männern im Winter zur Bärenjagd, wartet bei Schlitten und Pferden am Waldrand auf die Rückkehr der Jäger. Da steht plötzlich hoch aufgerichtet ein riesiger schwarzer Bär vor ihr. Sie fällt in Ohnmacht, so finden sie die Männer und rasen mit der bewusstlosen Frau zum Gutshof zurück. Nach Monaten wird ein Sohn geboren. Er wächst als raubeiniger Kerl heran und ist seltsam uninteressiert, eine Frau zur Gemahlin zu nehmen. Bis die Eltern ihn überreden. Die Hochzeit wird mit großem Prunk mitten im Winter gefeiert. Gegen Mitternacht zieht sich das Brautpaar in die oberen Gemächer zurück. Als sich nach mehrmaligem Klopfen am nächsten Tag im Brautgemach nichts rührt, befiehlt die Mutter des Bräutigams, die Türe gewaltsam zu öffnen. Auf dem Bett im eiskalten Raum liegt der nackte Körper der Braut, wie von Krallen schrecklich zugerichtet, ihre Kehle ist durchgebissen. Mutter und Verwandte schleppen sich entsetzt ans offene Fenster und sehen, dass der Bräutigam mit einem gewaltigen Sprung Halt im nächststehenden Baum gesucht hat. Von dort hatte er sich herab gelassen und war, das zeigen die Spuren im Schnee, auf allen Vieren in den Wald getrabt.

Das war meine erste und zugleich wichtigste Begegnung mit der Literatur. Die Elemente von Magie, Unterhaltung und Spannung (hoffentlich nicht auch die literarische Qualität!) wurden für meine Arbeit als Verleger und später als Autor prägend. Dem unbekannten Autor schulde ich großen Dank, ich habe später weder seinen Namen noch den Titel des Heftes herausfinden können.